Berlin, 03.07.2018
Sehr geehrte Frau Dehmelt,
haben Sie besten Dank für Ihren zweiten offenen Brief vom 30. Juni 2018, der unseren Briefaustausch fortsetzt.[1] Sie bitten mich darin erneut, auf Ihr Gesprächsangebot einzugehen, indem ich mich stärker jenen Fragen zuwende, die innerhalb der „Anthroposophischen Meditation“ seit Jahren im Mittelpunkt stehen. Hierbei beziehen Sie sich u.a. auf eine Bemerkung in meinem letzten Newsletter,[2] wonach ich meinen Lesern bekannt gegeben habe, dass ich für die Fortsetzung des Artikels, der der Auslöser für unsere Diskussion gewesen ist,[3] mehr Zeit brauche, als ich zunächst vermutet hatte. Anschließend daran formulieren Sie ihren Wunsch, dass ich „meine Überzeugungen aus eigener Kraft entwickeln“ möge, „und nicht im Kampf mit dem“, was ich mir unter „Anthroposophischer Meditation“ vorstelle. Worauf Sie mehrere jener Fragen aufzählen, die die „Anthroposophische Meditation“ charakterisieren. – Genau an dieser Stelle aber treffen Sie auf den Nerv meines Ringens der letzten Wochen und Monate: Was ist diese „Anthroposophische Meditation“? Woher kommt sie? Was sind ihre Ursprünge? Wie hat sie sich entwickelt und was stellt sie dar?
Selten habe ich in meinem Leben so stark um Antworten gerungen, wie in der Suche nach diesen. Denn immer deutlicher wird mir: Hier geht es um wesentlich mehr als „nur“ um eine bestimmte Strömung, hier geht es um wesentlich mehr als „nur“ um Meditationen. Und hier geht es vor allem nicht etwa darum, wie sich denn nun die so viel zitierten „höheren Bewusstseinsstufen“ Imagination, Inspiration, Intuition zueinander verhalten oder ähnliche Fragen, die Sie in Ihrem Brief stellen. Nein, hier geht um die alles entscheidende Frage: Was ist die Anthroposophie Rudolf Steiners? Und mir wurde bewusst: Wenn wir, angesichts des ungeheuren Ausmaßes, das jene „Anthroposophische Meditation“ angenommen hat, diese Frage nicht klar und deutlich beantworten können – dann haben wir versagt.
Im Ringen um diese Fragen habe ich die letzten Monate verbracht. Und nun tritt mir eine Erkenntnis immer deutlicher vor die Seele: Eine „Anthroposophische Meditation“, die tatsächlich von der Anthroposophie Rudolf Steiners ausgeht, kann es gar nicht geben. Denn Anthroposophie ist ein Ganzes, Wesenhaftes, sie kann nicht in der Weise zerteilt und zerstückelt werden, wie es von der „Anthroposophischen Meditation“ vorgenommen wird. Anthroposophie ist ebenso ein gegebenes lebendiges Ganzes, wie sie – und dies ist nun unsere Aufgabe – immer mehr ein ganz und gar Individuelles werden muss. Keinesfalls aber können solche Überlegungen, wie denn nun irgendwelche höheren Erkenntnisstufen erreicht werden könnten o.ä., aus ihr herausgelöst und in den Mittepunkt gestellt werden, denn dann haben wir es nur noch mit einem toten, wesenlosen Abbild dessen zu tun, was als Anthroposophie in die Welt getreten ist.
Ich weiß, dass es sehr schwer ist, sich an dieser Stelle verständlich zu machen. Denn unser Lesen und Verstehen, auch der Texte Rudolf Steiners, ist eben zunächst immer ein „Kochbuch“-Lesen;[4] ja, es kann sogar gar nicht anders sein! Das Erleben, dass es sich bei diesen Texten und Büchern um lebendige Texte handelt, die wir immer dann abtöten, wenn wir sie – hier z.B. unter dem Gesichtspunkt ihrer für die Meditation praktischen Gesichtspunkte – auseinanderreißen, wenn wir uns an ihnen bedienen, so wie wir es eben immer gewohnt sind, uns zu bedienen; dieses Erleben widerspricht unserem Zeitalter und der Seelenkonfiguration des heutigen Menschen ganz und gar.
Immer wieder wird von den Vertretern der „Anthroposophischen Meditation“ bemerkt und beklagt, dass sich Rudolf Steiner in so unterschiedlicher Weise und oft sogar gegensätzlich über Imagination, Inspiration und Intuition geäußert habe. Doch schauen wir uns die Sache einmal genauer an: In „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“[5] z.B. spricht er gar nicht von Imagination, Inspiration und Intuition, denn dies ist eine Schrift, die dem anthroposophischen Schulungsweg gilt, der sich übrigens schon im Lesen des Buches vollzieht, und nicht etwa nur in der Ausführung der darin enthaltenen „Anweisungen“. (Und übrigens: Jedes Buch und jede Schrift Rudolf Steiners gilt diesem Schulungsweg, auch wenn dies dem Leser nicht sofort sichtbar werden sollte.) Der durch „Wie erlangt man“ angeregte Schulungsweg aber besteht in erster Linie aus einer Begegnung und aus einer Arbeit an sich selbst; ob und welche Meditation dann eventuell dazukommen (oder auch nicht) – dies wird sich aus dem ganz und gar individuellen Weg des Einzelnen ergeben. Und weiter: In einem der zentralen Aufsätze zum Thema behandelt Rudolf Steiner nicht etwa in erster Linie Imagination, Inspiration und Intuition, sondern eigentlich „Die Erkenntnis vom Zustand zwischen dem Tode und einer neuen Geburt“.[6] Es ist aber in diesem ganz konkreten Zusammenhang, dass er dann auch ganz konkrete, nur aus diesen Ausführungen heraus wirklich verständliche Aussagen zu Imagination, Inspiration und Intuition macht! Diese Zusammenhänge aber gilt es zu entdecken und zu erleben, denn nur aus einer solchen erlebten Entdeckung heraus kann sich auch eine Meditationsform entwickeln, die sich mit Recht auf die Anthroposophie Rudolf Steiners beruft. Und selbst in den viel zitierten „Stufen der höheren Erkenntnis“[7] geht es um etwas ganz anderes als um die technischen, sogenannten „praktischen Fragen“, die für die „Anthroposophische Meditation“ im Mittelpunkt stehen. Denn all diese Werke, all diese Schriften, haben eines gemeinsam: Dasjenige, was hier als Meditation etc. bezeichnet wird, ergibt sich aus diesen Schriften selbst, kann also nur im Ringen des Lesers mit diesen Schriften überhaupt erst sichtbar werden!
Wie schon angedeutet, bin ich dabei, einen Fortsetzungsartikel zu diesen Fragen zu verfassen. Ich kann hier daher nur gewisse Elemente andeuten und weiß sehr gut, dass solche Andeutungen nur ein Versuch sein können – mit all dem Wissen von der Begrenztheit eines solchen Versuchs. Doch möchte ich an dieser Stelle noch auf ein Werk eingehen, das auch Ihnen, sehr geehrte Frau Dehmelt, sehr am Herzen liegt: auf „Die Geheimwissenschaft im Umriss“. Hier erscheint das Kapitel „Die Erkenntnis der höheren Welten“, worauf Sie sich immer wieder beziehen, im Anschluss an die Kapitel „Charakter der Geheimwissenschaft“, „Wesen der Menschheit“, „Schlaf und Tod“, und vor allem im Anschluss an die unglaublich zentralen Ausführungen Rudolf Steiners über „Die Weltentwickelung und der Mensch“. Warum ist das so?
An dieser Stelle berühre ich eine besonders schwierige und besonders tragische Seite des ganzen Geschehens. Die nämlich, dass auch am historischen Ursprung der „Anthroposophischen Meditation“ nicht etwa Rudolf Steiner gestanden hat, sondern ganz andere Strömungen und Individualitäten. Auch für Sie ist der entscheidende Schritt, wie Sie es selbst beschreiben, nicht anhand der Arbeit mit der Anthroposophie möglich geworden, sondern in ihrer Begegnung mit der sich auf eine hinduistische Tradition stützenden Meditationsform Andrew Cohens.[8] Cohen aber vertritt eine sogenannte „Entwicklungsspiritualität“, die auf der Vorstellung fußt, dass das Spätere immer auch gleichzeitig auch das Höhere sei. Diese Vorstellung entspricht der Darwinistischen Entwicklungstheorie, und dass Sie dieser folgen, konnte ich schon in meinem vorigen offenen Brief zeigen. Nun steht ein solcher materialistischer Begriff von Entwicklung aber im vollständigen Gegensatz zu dem entscheidenden Kapitel „Die Weltentwickelung und der Mensch“ der Geheimwissenschaft, das die Voraussetzung für das darauffolgende Kapitel „Die Erkenntnis der höheren Welten“ ist. Wenn man aber mit einer der „Geheimwissenschaft im Umriss“ gar nicht entsprechenden Voraussetzung an dieses Kapitel herangeht, kann es auch gar nicht im Sinne Rudolf Steiners gelesen und verstanden werden.
Doch ist nicht nur Andrew Cohen einer der Väter der „Anthroposophischen Meditation“. Ganz besonders ist es auch die sogenannte „Akademische Meditationsforschung“ um Ulrich Ott, die auf der akademischen Hirnforschung fußt (in den Geburtsjahren der „Anthroposophischen Meditation“ hat man ja sogar die Hirnströme beim Meditieren, Imaginieren etc. gemessen!), ebenso wie der Zen-Buddhismus oder ähnliches. Denn es ist die in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt aufgekommene Mode, sich mit „Meditationen“ zu beschäftigen, welche überhaupt erst den Blick dafür geöffnet hat, diese aus der Anthroposophie herauslösen zu wollen. Vorher konnte sich der Blick noch gar nicht in eine solche Richtung wenden, denn die eigentlichen Inspiratoren der „Anthroposophischen Meditation“ waren noch nicht sichtbar. Und so ist die „Anthroposophische Meditation“ nichts anderes als ein Teil dieses Modetrends. Ohne diesen wäre sie niemals entstanden, denn in der Anthroposophie Rudolf Steiners hätte sie ihren Ursprung nicht finden können.
Mit freundlichen Grüßen
Irene Diet
[1] http://www.infameditation.de/wp-content/uploads/2018/07/Dehmelt-Diet-II.pdf
[2] Diese Newsletter erscheinen in unregelmäßiger Folge im IGNIS Verlag: www.ignisverlag.com.
[3] Der Artikel heißt „Meditation und Anthroposophie Rudolf Steiners: Wo ist der Zusammenhang? Siehe: https://ignisverlag.com/wp-content/uploads/2018/03/meditation-und-anthroposophie-wo-ist-der-zusammenhang-21-mc3a4rz-20183.pdf. https://ignisverlag.com/wp- . Dieser Artikel wird fortgesetzt und wird im Newsletter und auf der Web-Seite des IGNIS Verlags erscheinen.
[4] Siehe dazu: https://ignisverlag.com/wp-content/uploads/2018/04/Rudolf-Steiner-Ein-Verfasser-von-Kochbüchern.pdf
[5] GA 10.
[6] In: GA 35.
[7] GA 12.
[8] Siehe Dehmelt, A.K., Vom lebendigen Denken und vom leeren Bewusstsein, in: die Drei 7-8/2012, S. 21ff.