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Antwort auf den offenen Brief von A.-K. Dehmelt

Berlin, den 9. Juni 2018

 

Sehr geehrte Frau Dehmelt,

Haben Sie vielen Dank für Ihren offenen Brief vom 3. Juni 2018,[1] auf den ich Ihnen gerne antworten möchte. Dass es sich im Weiteren nicht darum handeln kann, Zitate aus der Rudolf Steiner Gesamtausgabe gegeneinander zu halten – dem kann ich nur zustimmen. Und dies ist übrigens in unserer Diskussion auch gar nicht möglich. Denn hier geht es nicht etwa nur um Meditation, oder um Imagination, Inspiration und Intuition, nein, es geht um wesentlich mehr. Um das Wesen der Anthroposophie nämlich. Und da bemerke ich, erneut in Ihrem Brief, dass Sie einen ganz anderen Begriff von Anthroposophie haben als ich.

Im Moment schreibe ich an einer Fortsetzung meines Artikels „Meditation und Anthroposophie Rudolf Steiners – Wo ist der Zusammenhang?“ [2] Mit Ihrem Brief verweisen Sie noch einmal genau auf die Elemente, die mir die wichtigsten sind, und die ich auch in meinem Fortsetzungs-Artikel behandeln werde. Daher möchte ich hier nur auf jene Stellen Ihres offenen Briefes eingehen, an denen unsere grundsätzlich unterschiedliche Auffassung besonders deutlich wird.

In der Erklärung Ihres Herangehens an die von Ihnen vertretene Anthroposophische Meditation schreiben Sie in Ihrem offenen Brief auf Seite 2 f.:

„Ich habe mich dazu oft eines Vergleichs bedient: in der Evolution gibt es ständig Wiederholungen von Wiederholungen von Wiederholungen früherer Zustände. So beginnt die ‚Alte Sonne‘ mit einer Wiederholung des ‚Alten Saturn‘, der alte Mond mit einer Wiederholung des ‚Alten Saturn‘ und der ‚Alten Sonne‘, innerhalb letzterer dann in kleinerer Runde nochmals der ‚Alte Saturn‘ wiederholt wird – wir haben es also andauernd mit Wiederholungen von Wiederholungen von Wiederholungen zu tun. Imagination wird als weltenbildender Bewusstseinszustand voll erst auf dem ‚Jupiter‘ ausgebildet sein, Inspiration auf der ‚Venus‘ und Intuition auf dem ‚Vulkan‘. Es gibt aber, so wie es Wiederholungen von Wiederholungen von Wiederholungen gibt, Vorstufen von Vorstufen von Vorstufen. Deshalb nur können wir heute den Bewusstseinszustand der Imagination wenigstens anfänglich ausbilden: als Vorstufe künftiger zunehmender Realisierungen, aber doch heute schon sich ankündigend.

Sie, so scheint es mir, blicken auf die Imagination mehr im Sinne der voll ausgebildeten ‚Jupiter‘-Form, ich im Sinne einer Vorstufe einer Vorstufe einer Vorstufe. Kann man sich von diesen beiden Standpunkten aus nicht verständnisvoll zuwinken?“

Mit diesem, in Ihren Seminaren und Workshops wahrscheinlich oft gebrauchten Vergleich möchten Sie darauf deuten, dass sich eine Entwicklung immer über verschiedene Vorstufen vollzieht. Sie ziehen dazu die von Rudolf Steiner beschriebene Erdenentwicklung heran, in der es – vor dem Erreichen eines neuen Zustandes – stets Wiederholungen der schon vergangenen Zustände gegeben hat, und übertragen dieses Bild auf die kommenden Vorstufen zu den höheren Entwicklungszuständen der Erde. Dahinein fügen Sie nun Ihre Vorstellung von der Entwicklung höherer Erkenntnisstufen; aus einer anfänglichen unvollkommenen Imagination soll sich die wahre Imagination erst auf einer höheren Stufe der Erdentwickelung herausbilden können (hier auf dem Jupiter) etc.

Damit aber berühren Sie eines der größten Geheimnisse der Entwicklung überhaupt, und Sie beantworten es im Sinne Darwins. Die große Idee der Erdenentwicklung Rudolf Steiners zeigt nämlich etwas anderes: Vollkommeneres kann sich nicht aus Unvollkommenen herausentwickeln; im Saturnzustand sind schon alle zukünftigen Entwicklungszustände der Erde enthalten, ganz besonders aber der letzte, der Vulkanzustand; ebenso im Sonnenzustand der der Venus etc. Denn das Vollkommene kann kein Produkt des Unvollkommen sein; es steht stets im Anfang der Entwicklung, ja, es bildet den Anfang selbst. Entwicklung bildet „nur“ noch Entfaltung des schon wesenhaft Enthaltenen. Wahre Imaginationen können sich also nicht aus Erlebnisformen herausentwickeln, in dem diese nur unvollkommen enthalten sind, so wie Sie es erhoffen. Denn Imaginationen können gar nicht entwickelt werden; der Meditierende kann sich nur darauf vorbereiten, eine solche zu empfangen. Und das, was er dann empfängt, ist immer eine vollständige Imagination; nicht etwa nur eine Vorform derselben.

Dass Sie davon ausgehen, dass der Meditierende selbst Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen bilden könne, wird aus Ihrem Brief sehr deutlich. Und zwar in der folgenden Weise:

Eine zentrale Aussage meines Artikel bestand darin, zeigen zu wollen, dass eine von den Vertretern der „Anthroposophischen Meditation“ stets behauptete Annahme, mit der man sich auf Rudolf Steiner zu stützen vorgibt, gar nicht auf Rudolf Steiner zurückginge. Die nämlich, wonach es sich bei der Imagination um ein verwandeltes Vorstellen handele, bei der Inspiration um ein verwandeltes Fühlen und bei der Intuition um ein verwandeltes Wollen. Sie antworten darauf auf Seite 5 mit einem Zitat aus „Von Seelenrätseln“ – meines Wissens die einzige Stelle, an der Rudolf Steiner diese Zusammenhänge so unmittelbar aufzeigt. Sie zitieren folgendes:

„Wie nach dem Leibe hin das Vorstellen auf der Nerventätigkeit ruht, so strömt es von der andern Seite her aus einem geistig Wesenhaften, das in Imaginationen sich enthüllt. … Das Fühlen des gewöhnlichen Bewusstseins ruht nach der Leibesseite hin auf dem rhythmischen Geschehen. Von der geistigen Seite her erfließt es aus einem Geistig-Wesenhaften, das innerhalb der  anthroposophischen Forschung durch Methoden gefunden wird, welche ich in meinen Schriften als diejenigen der Inspiration kennzeichne. … Das Wollen, das nach dem Leibe hin auf den Stoffwechselvorgängen beruht, erströmt aus dem Geiste für das schauende Bewusstsein durch dasjenige, was ich in meinen Schriften die wahrhaftigen Intuitionen nenne.“ (Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln, S. 160f.)

Vielleicht gibt es kein Zitat im Werk Rudolf Steiners, das deutlicher machen kann, was ich meine. Und der Unterschied unserer beiden Auffassungen kann an kaum einer Stelle so sichtbar werden wie an dieser.

Sie fassen die oben zitierten Worte so auf, als könne man Imaginationen unmittelbar aus Vorstellungen heraus entwickeln, Inspirationen unmittelbar aus dem Fühlen und Intuitionen unmittelbar aus dem Wollen. Die von der „Anthroposophischen Meditation“ angegebenen Übungen sind alle so aufgebaut: Man nimmt Vorstellungen und bildet „Imaginationen“, man nimmt „Gefühle“ und entwickelt „Inspirationen“ etc. Der Gesichtspunkt, aus dem heraus Rudolf Steiner diese Zusammenhänge darstellt, ist aber ein ganz anderer. Diese Zusammenhänge ergeben sich der übersinnlichen Erkenntnis; sie strömen gleichsam – aus dieser Erkenntnis heraus. Das bedeutet aber in keinem Falle, dass man aus den Verrichtungen des gewöhnlichen Bewusstseins unmittelbar dasjenige herausentwickeln könne, womit jenes – von der anderen Seite her Einströmendes –auf eine bestimmte Art zusammenhängt.

Wenn man die von Ihnen zitierten Sätze Rudolf Steiners genauer liest, wird dieser Zusammenhang zwischen dem Physisch-Sinnlichen auf der einen Seite und dem Geistigen auf der anderen besonders deutlich:

„Wie nach dem Leibe hin das Vorstellen auf der Nerventätigkeit ruht, so strömt es von der andern Seite her aus einem geistig Wesenhaften, das in Imaginationen sich enthüllt. … Das Fühlen des gewöhnlichen Bewusstseins ruht nach der Leibesseite hin auf dem rhythmischen Geschehen. Von der geistigen Seite her erfließt es aus einem Geistig-Wesenhaften, das innerhalb der  anthroposophischen Forschung durch Methoden gefunden wird, welche ich in meinen Schriften als diejenigen der Inspiration kennzeichne. … Das Wollen, das nach dem Leibe hin auf den Stoffwechselvorgängen beruht, erströmt aus dem Geiste für das schauende Bewusstsein durch dasjenige, was ich in meinen Schriften die wahrhaftigen Intuitionen nenne.“ [3]

Drei Mal folgt dieselbe Geste: Das nach dem Leibe hin auf der Nerventätigkeit, dem rhythmischen Geschehen oder den Stoffwechselvorgängen Ruhende des Vorstellens, Fühlens und Wollens „strömt“, „erfließt“ oder „erströmt“  von der anderen, „geistigen Seite her“, für das schauende Bewusstsein, als Imagination, Inspiration und Intuition. Dieses „aus dem Geiste“ Strömende kann aber der Meditierende nicht erzeugen. Er kann es nur empfangen.

***

Die Art, mit der die „Anthroposophische Meditation“ arbeitet, umgeht den entscheidenden Schritt: den der Berührung an und durch die Schwelle zwischen der physisch-sinnlichen und der geistigen Welt. Damit findet auch die nur an dieser Schwelle mögliche Verwandlung nicht statt, die zuerst der Meditierende an sich selbst erfahren muss, um dann die vollkommen verwandelte Geste des auf ihn Zuströmenden überhaupt empfangen zu können.

In der von der „Anthroposophischen Meditation“ vorgestellten Form gibt es diese Schwelle nicht; hier geht das eine unmittelbar in das andere über. Und das Ergebnis einer auf derartigen Vorstellungen basierenden Arbeit besteht darin, dass bei den Verrichtungen, die man als „Imagination“, „Inspiration“ und „Intuition“ bezeichnet, nichts anderes erzeugt und angeschaut wird, als unterschiedliche Variationen des sich selbst nicht begriffenen gewöhnlichen Bewusstseins.

An dieser Stelle möchte ich eine etwas persönlichere Bemerkung machen. Besonders erschüttert mich die heute so weit verbreitete Vorstellung, dass man aus einem Fühlen heraus „Inspirationen“ entwickeln könne. In dieser Richtung wird seit vielen Jahren von vielen, vielen Teilnehmern geübt. Dass ein so eigenartiger Zusammenhang – im Namen Rudolf Steiners ! – hergestellt werden und sich unter so vielen Menschen behaupten kann, zeugt davon, dass Rudolf Steiner gar nicht mehr gelesen wird. Denn wie sehr unterscheiden sich die Anweisungen und Erklärungen, die er dazu gegeben hat, von dem, was hier praktiziert wird! Wie ist es möglich, dass viele hundert Menschen dies nicht bemerken?

Doch nun wieder zurück zu Ihrem Brief. Ich wiederhole: die von der „Anthroposophischen Meditation“ erfahrenen Wahrnehmungen entspringen dem – nicht als solches erkannten – gewöhnlichen Bewusstsein. Sie bleiben diesem verhaftet. Wie aber ist ein solch grundlegender Irrtum möglich?

Auch diese Frage beantworten Sie in Ihrem offenen Brief selbst. Auf Seite 6 sagen Sie folgendes:

„Der Unterschied (von imaginativen – I.D.) zu gewöhnlichen Vorstellungen liegt darin, dass diese ein Äußeres abbilden, während jene ein Inneres zum Ausdruck bringen. Diesen Unterschied lernt man bei den Übungen zur Imagination sehr genau kennen.“

Ich konstatiere also: Alles, was Ihnen als ein „Inneres“ erscheint, halten Sie schon für etwas, das nicht mehr den gewöhnlichen Vorstellungen angehört. Wie groß und unbekannt ist aber dieses „Innere“, und wie sehr entspricht gerade dieses „Innere“ dem „gewöhnlichen Bewusstsein“! Der Bereich des Unbewussten und Unterbewussten ist nämlich dann umso größer, umso weniger er überhaupt in Betracht gezogen wird. Und daher gehört es auch zu den grundlegenden Erfahrungen, die ein Suchender immer dann macht, wenn er sich der Schwelle nähert: Als erstes begegnet er keinesfalls einer „geistigen Welt“, sondern immer wieder nur sich selbst – in den ihm bislang unbewusst gebliebenen Bereichen seines Unbewussten. Steht diese Erkenntnis nicht am Anfang, führt der ganze weitere Weg in die Irre. Und statt einer übersinnlichen Erkenntnis erfährt der Meditierende nur immer wieder die verschiedenen Schattierungen seiner selbst und seines ganz und gar unbewusst gebliebenen Unbewussten!

Dies ist eines der Hauptthemen, mit denen ich mich in der Fortsetzung zu meinem Artikel „„Meditation und Anthroposophie Rudolf Steiners – Wo ist der Zusammenhang?“ beschäftigen werde. Genaueres über diesen wichtigsten Schritt eines Erkenntnissuchers also in diesem.

***

Das Auftreten Rudolf Steiners markiert eine Weltenwende. Ich weiß, dass so etwas heute gar nicht gern gehört wird. Man möchte dazu gehören und Rudolf Steiner dazugehörig machen. Das aber geht nicht mit solchen Worten, und noch weniger mit einer solchen Haltung, wie ich sie z.B. genau an dieser Stelle kundtue. Und man möchte zeigen – am besten am eigenen Leib – dass Anthroposophie gar nicht schwer ist. Dass jeder sie erreichen kann – sofort, möglichst schnell und ohne Beulen, schmerzlos, fließend, gleichsam dem allgemeinen Wellness-Trend entsprechend.

Ich weiß, dass ich mich mit meinen Zeilen nicht populär mache. Sie sind unbequem und erscheinen für viele antiquiert und hausbacken. Doch die „Wellness-Anthroposophie“ interessiert mich nicht. Was mich interessiert, ist die Gewissheit, dass in dem, der ich heute bin, derjenige steckt, der sich – an und mit Rudolf Steiner – über mehrere Inkarnationen herausentwickeln wird. Und es ist aus diesem heraus, in dem der Hunger und der Durst nach Anthroposophie so stark geworden ist, dass sie nicht gesättigt werden können, dass ich auch jedes meiner Worte und jede meiner Taten zu formen versuche.

 

Mit freundlichen Grüßen,

Irene Diet

 

[1] http://www.infameditation.de/wp-content/uploads/2018/06/Dehmelt-Diet.pdf

[2] Diese Fortsetzung wird erscheinen in: http://www.ignisverlag.com

[3] Hervorhebungen von mir – I.D.

Ein Gedanke zu „Antwort auf den offenen Brief von A.-K. Dehmelt

  1. This iis a great post

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